Chile: „Ich weiß nur, das ist nicht Marx. Es ist eher Bakunin“ [1]
Jetzt ist die Zeit der nachbarschaftlichen und gleichberechtigten Organisationen und Kollektive. Die Regierung hat nicht verstanden, dass dies ein Kampf ist, der schon lange begonnen hat, bevor die Demokratie zurückkehrte.[2] Denn es ist ein Kampf, in dem wir alle uns erhoben haben: Kleinbäuer*innen (pobladores), Studierende, Arbeiter*innen, erwerbslose Eltern, Kinder und Jugendliche, die alle eine neue Verfassung anstreben, die jeden miteinbezieht.[3]
Doch letztendlich haben wir eine Verfassung bekommen, die auf der Ebene der politischen Parteien abgeschlossen wird, welche niemand anderen miteinbeziehen als sich selbst. Darüber hinaus haben sie gesetzliche Abkommen getroffen, die ihnen nützen und damit auch dem großartigen Schicksal des Landes. Bereits Ende der 1980er, dass dies eine Parteidiktatur ist, denn der einzige Weg der anerkannt und erlaubt ist, um Stellvertretung auszuüben bzw. ein*e Stellvertreter*in zu sein, ist durch die politischen Parteien.
In den 1990ern wurde eine neue Art der Zusammenkunft und des Handelns entwickelt, welche die autoritäre und ausschließende Struktur der traditionellen Organisationen in Frage gestellt hatte. Jedoch mit den Praktiken aus den 1980ern wurden Organisationen aufgebaut, die ganz langsam vom Autoritarismus [4] und von einer verlogenen Führerschaft durchzogen und übernommen wurden (was nicht bedeuten soll, dass es eine „ehrliche“ Führerschaft gibt oder dass sie besser wäre).
Dennoch gibt es noch Organisationen, deren Ziel weiterhin eine inklusive Verfassung ist. Und eben diese haben auch bewusst keine Anführer*innen oder Stellvertreter*innen und schaffen es die gesamte Gesellschaft mit einzubeziehen, die langsam ihre Stärke und ihre Solidarität im Kampf entdeckt.
Diese Auseinandersetzungen der letzten vier Wochen haben es ermöglicht, auf eine aktive und alarmierende Weise die dringenden Forderungen aufzuzeigen. Die haben jedoch nichts mit der Einführung von 30 Dollar teuren U-Bahn-Tickets zu tun, sondern viel mehr mit den Plünderungen, bei denen die gestohlenen Waren an die Bevölkerung zurückgegeben wurden. Oder mit den ausgetrockneten Flüssen, wegen denen viele Leute ihre Tiere nicht tränken oder ihr Getreide nicht gießen können, während ein einziger „Herr“ (señor) viele Hektar Land sehr gut bewässern kann.
Ebenso wie diese Flüsse, deren Strom zurückgekehrt ist, strömt auch die Bevölkerung als ein Ganzes, durch die Sozial- und Basisorganisationen, abseits von den Parteien, welche seit vielen Jahrzehnten ihre Kämpfe gelenkt haben. Die Menschen haben erste Schritte auf dem Weg der Selbstbestimmung gemacht, sind aktiv geworden und sprechen für sich selbst. Ihr Ziel sind grundlegende Veränderungen und dadurch wird das Modell des radikalen Kapitalismus in Frage gestellt.
Stadtteilversammlung in Temuco (Dez 2019)
Als Anarchist*innen sehen wir, dass diese Protestkundgebungen es geschafft haben, eine grundsätzliche Verschiebung der gesellschaftlichen Kämpfe hervorzubringen. Daraus hat sich ein Aufstand entwickelt, der die wirtschaftlichen Symbole angegriffen hat, die für die Unterstützung dieses Systems stehen. Dieses befindet sich nicht in der Krise, sondern im Niedergang. Denn genauso, wie die Liberalen den Sozialismus in Venezuela als ein System bezeichnen, das keine Antworten mehr hat, so verhält es sich mit dem chilenischen Liberalismus, der auch nicht mehr antwortet, denn er ist auf einer ideologischen Vorstellung gebaut, die durch Waffen erzwungen wird und von der Überschuldung der Einzelnen aufrechterhalten wird.
Die Menschen in ihren gleichberechtigten Organisationen und Bezugsgruppen haben es geschafft auf den Straßen zu bleiben angesichts und trotz der bewaffneten Armeen. Und anstatt, daß es weniger Demonstrationen gibt, haben diese noch zugenommen und mehr Leute haben sich aus Protest gegen die Polizeigewalt angeschlossen.
Wir denken, dass es gleichzeitig zu der Aufrechterhaltung der Barrikaden und innerstädtischen Proteste wichtig ist, im Aktivismus weiter zu gehen und wirkliche Basisversammlungen zu organisieren. Damit diese das Vorgehen besprechen und durch Diskussionen die Richtung der Kämpfe vorgeben, gemeinsam mit den Gebieten, die von der Unterdrückung und der Macht des Staates befreit wurden.[5]
Es gibt auch einen Entwurf für ein Grundeinkommen in Chile, mit dem wir vorangehen auf dem Weg zum neuen Aufbau der Gesellschaft: durch mehr Solidarität, mehr Aktionen und mehr Kämpfe.
Der Kampf geht weiter bis alle Politiker*innen weg sind: Alle müssen gehen!
Organisiert euch, um zu kämpfen, nicht um zu führen!
Grupo Anarquista Germinal (Concepción/Chile)
Quelle: http://blog.cnt-ait.info/post/2019/12/04/CHILE-GERMINAL-en
Anmerkungen:
1) Michael Bakunin (1814-1876), anti-autoritärer Anarchist und Mitbegründer der Ersten Internationale; Karl Marx (1818-1883), autoritärer Kommunist und Mitbegründer der Ersten Internationale.
2) Seit dem Putsch am 11. September 1973 gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende herrschte General Augusto Pinochet als Diktator bis zur Präsidentenwahl von 1990, blieb aber Oberbefehlshaber des Heeres bis zu seiner Verhaftung 1998 in London.
3) Die diktatorische Verfassung von 1980 wurde zwar 1989 leicht geändert, aber bis ihrer Reform von 2005 gab es keine grundsätzliche Einschränkung der zentralen Macht des Militärs bzw. des Nationalen Sicherheitsrats (COSENA). Am 10.11.2019 kündigte der Innenminister Blumel angesichts von Massenprotesten die Ausarbeitung einer neuen Verfassung an.
4) undemokratische, pragmatisch-reaktionäre Herrschaftsform mit begrenzter Vielfalt und unklarer Weltanschauung, aber fehlender Massenmobilisierung
5) Die Mapuche als größte Gruppe von Ureinwohner*innen des südamerikanischen Landes, kämpfen seit Jahrhunderten für selbstverwaltete Gebiete und politische Anerkennung, vor allem aber gegen Rassismus, Vertreibung und Naturzerstörung.
Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Proteste_in_Chile_2019
https://anarchosyndikalismus.blackblogs.org/2019/12/13/chile-nicht-wie-m...